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Besser ein Skandal als gar keine Wahrheit. Aber was können wir nach einem Skandal tun?

Mitten im Skandal finden wir die Doppelmoral

Der Skandal ist der gute Freund der Aufklärung. Einige meinen auch: Besser ein Skandal als gar keine Wahrheit. Die Massentierhaltung hat davon reichlich zu bieten. Doch reicht der Skandal? Was ändert dieser wirklich? Ein Appel für einen Blick auf die Zeit nach dem Skandal. Und ein Plädoyer für Do it yourself an Verbraucher:innen.

©jetzt-red-i-BR
©jetzt-red-i- Bayerischer Rundfunk

„Ich höre hier nur von Gewinnmaximierung und was weiß ich alles. Wir müssen uns eine ethische Frage stellen. Was hat ein Tier für ein Bedürfnis? Warum unterscheiden wir Nutztiere und Haustiere? Warum streicheln wir die Katze und den Hund, aber warum essen wir die Kuh?“

Ich liebe Dich. Ich nutze Dich.

Das Zitat stammt von einer Zuschauerin, die in der Sendung des Bayerischen Rundfunks „jetzt red i“ saß. Am 25. Juli 2019 diskutierte man heiß unter dem Titel „Massentierhaltung gleich Tierquälerei?„. Die Zuschauerin erntete für ihren Kommentar lebendigen Applaus. Die von ihr angesprochene Doppelmoral finden wir spürbar zwischen Haustier und Nutztier.

Aber auch bei „hybriden Tiernutzungsformen“ wie dem Pferd: zwischen Freizeitpartner und Sportgerät pendelt das menschliche Ermessen und auch die Willkür, wie artgerecht oder eben unsachgemäß (vor dem Gesetz ist das Pferd schließlich ein Sachgegenstand) mit den Equiden umgegangen wird. 

Der faire Deal kommt

Das Nutztier an sich ist ein heikles Thema. An ihm spalten sich die Gemüter, es zeigt sich die charakteristische Doppelmoral: Die wenigsten Menschen würden heute die Massentierhaltung aktiv befürworten: Frag jemanden, der aus dem Supermarkt kommt und ein konventionelles Stück Fleisch gekauft hat, nach seiner Meinung, ob es den Tieren besser gehen sollte. Die meisten wünschen sich eine bessere Haltung von und einen humaneren Umgang mit den Tieren.

Wenn die Tiere gut oder zumindest besser als ihre Leidensgenossen gelebt haben, so beschreibt es der wissenschaftliche Terminus „Fairer Deal“, wäre es sogar in Ordnung, Fleisch zu essen. Immer mehr setzt sich diese moralische Kompromisserklärung durch (mehr zum fairen Deal folgt unten).

Doch die Absatzzahlen für Fleisch und Milch aus der Intensivtierhaltung sprechen eine überaus deutliche Sprache. 140 Milliarden Dollar Umsatz erzeugt die Massentierhaltung im Jahr, und die Industrie wächst beständig. 

Skandale und Bauernopfer

Und dann kommt ein Skandal an die mediale Öffentlichkeit. Wie zum Beispiel der auf dem Milchviehbetrieb von Endres in Bad Grönenbach (Bayern), auf dem es zu schweren Misshandlungen von Milchkühen kam. Er war Stein des Anstoßes zur oben genannten Sendung. An dieser Stelle des Skandals kann das Nutztier dann zu einem fühlenden Wesen werden. Was es gestern beim Einkauf häufig noch nicht war.

Die Schuldigen? Häufig die Landwirtschaft. Nun ja, Bauern und Bäuerinnen müssen tatsächlich ökonomisch denken. Oder wie Marc Hagedorn schreibt: „„Bauern sind Unternehmer auf dem Lande.“ Wer weiss denn schon was es bedeutet, einen kleinen oder mittelgroßen Betrieb am Laufen bzw. am Leben zu halten?

Aber Stopp. Kann deswegen schwerer Missbrauch an Tieren gerechtfertigt werden? Sind deswegen drastische Umweltsünden als Erklärung ruhig abzunicken?

Ganz sicher nicht.

Aber es gibt ja auch noch das System. Namentlich die Politik zum Beispiel. In diesen Kreisen sucht man zu Recht Handelnde, die an Stellschrauben drehen. Dann spricht man über die Förderung der Regionalität oder dem in der Kritik stehenden Mercosur-Abkommen. Das Leiden in strukturschwachen Regionen, zu wenige Subventionen hier, zu viele Subventionen da. Warum tut keiner das, was die Lösung bringt?

Dabei wissen wir alle, wie langsam das Rad der Politik dreht. Und auch, wie unfair. Die Lobby macht’s möglich.

Das Wesen des Skandals

Ja, wir brauchen politische Entscheidungen und eine ethische Diskussion. Das ist die große Ebene, auf der sich was bewegen kann. Aber dies geschieht in aller Regel träge, sehr träge.

Der Skandal an sich ist ein sozialer Prozess. Beteiligt sind je nach Art und Umfang des Skandals eine Vielzahl von Menschen und Institutionen. Das Fruchtbare am Skandal ist, dass er das kollektiv bislang gültige Wertesystem einer Gesellschaft oder gar Kultur auf die Bühne hebt und kritisch beäugen lässt. In einem Skandal wird diskutiert, ob das, was wir meinen was richtig ist, wirklich richtig und konsensfähig ist.

Doch es liegt gleichfalls im Wesen des Skandals, dass Schwarz-Weiß diskutiert wird. Böse|Gut. Fair|Unfair. Richtig| Falsch. Das Dumme an dieser Frontenbildung ist dann, dass sich jeder so richtig schön in die Anonymität wegducken kann. „Wieso? Ich gehöre nicht der Gruppe an, die das gemacht hat!“ Und schaut weiter auf die Schuldigen, die es gemacht haben.

Während Skandale also den einen auf die Bühne heben und im Lichte unseres gesellschaftlichen Wertesystems beleuchten, machen Skandale Andere gleichzeitig gesichtslos, bestätigen ggfs., dass diese auf der „richtigen“ Seite stehen.

Ich möchte hier ausdrücklich wahre Skandale auf Basis investigativen Journalismus von Skandalisierungen, also inszenierten Skandalen mit Ziel einer bestimmten Wirkung, unterscheiden. In letztere fallen zahlreiche mediale, wirtschaftliche und politische Manöver. In erstere fallen Missstände, an deren Realität und Geschehen kein Zweifel herrscht.

Diesen Unterschied im Hinterkopf, möchte ich auf die Fruchtbarkeit von Skandalen für unsere Gesellschaft hinweisen.

Manche Skandale sind eine Chance, eigenen Handlungsraum zu sehen

Als Konsument braucht man sich für die Massentierhaltung nicht aktiv aussprechen, damit sie da ist. Wir müssen uns nur so verhalten, wie wir es täglich tun: Einkaufen gehen. Da, wo wir es immer tun. Da, wo es bequem ist.

Der Rest geschieht automatisch im Hintergrund. Und genau hier liegt unsere Handlungschance. Geschieht ein Skandal, der Missstände auf Basis des Systems „Massentierhaltung“ aufdeckt, zeigt sich eine Chance, seine eigene aktive oder eben auch nur passive Beteiligung an etwas zu hinterfragen.

Menschen wollen Fleisch essen. Die industrielle Landwirtschaft bietet uns dafür die bequeme und das Fleisch immer günstiger werdende Infrastruktur. So einfach ist das. Fleisch- und Milchprodukte werden nicht in die Supermärkte und Gastronomien geliefert und liegen dann da als Schau-Ware herum!

Der Skandal packt nicht nur Gut und Schlecht an die Nase. Wenn wir es wahrhaben wollen, dann zeigt er auch uns auf, welche Rolle wir spielen. Wenn damals in den 80ern die ersten Kälbertransporte gezeigt wurden zur Prime Time auf Stern TV, wäre es eine Chance gewesen, zu handeln. Das taten wir nicht, und die Berichterstattung verschwand.

Was der eine tut, lässt der Andere häufig auch zu

Skandale sind Phänomene, von denen es häufig leicht ist, sich zu distanzieren, indem man sich nur der „richtigen“ Seite anschließt. Doch ob Ausländerfeindlichkeit, Klimadebatte oder die Missstände in der Intensivtierhaltung: Skandale zeigen als soziale Prozesse keine Versatzstücke, die getrennt voneinander sind. Sondern einfach gesagt: Was der eine tut, lässt der Andere häufig eben auch zu. Wegschauen. Resignieren. Hinnehmen: häufig die Katalysatoren des nächsten Skandals.

Verbraucher:innen könnten neben politischen und wirtschaftlichem Handeln massiv mitbewirken, welche Folgen ein Skandal in der Nutztierhaltung hat, welche Konsequenzen aus ihm gezogen würden. Skandale zeigen uns damit nicht nur Trennung auf. Sondern auch Verbindungen, in denen wir gemeinsam stehen. Unser Handeln steht in Wechselwirkung mit vielen Prozessen, die uns häufig nicht so sichtbar vor Augen liegen. Skandale können Augenöffner sein.

Skandal als Augenöffner: Was Du tun kannst

  • Skandale aus der Nutztierhaltung kann ich zum Anlass nehmen, um mich selbst zu fragen: Was kann ich im Kleinen tun, um bestimmte Prozesse nicht mehr zu unterstützen? Wo war es mir vielleicht auch gar nicht bewusst, dass ich es unterstütze?
  • Inwiefern war man sich eigentlich lange Zeit schon bewusst, dass der Konsum gewisser Lebensmittels aus bestimmten Quellen weder für die Tiere, noch für mich wirklich gesund und gut ist? Was hat mich von einer Änderungen abgehalten?
  • Für mich selbst herausfinden, inwiefern dieser eine Skandal ggfs. eine Chance bedeutet, andere Menschen, die heute schon mit Leidenschaft für eine ökologischere und tierfreundlichere Produktion, es wert sind, aktiv von mir unterstützt zu werden. Nicht immer, sondern vielleicht nur bei zwei von zehn Einkäufen. Oder sofort einen konkreten Blick auf diejenigen werfen, die bereits in die richtige Richtung handeln
  • Lehrer:innen können Skandale aus der Nutztierhaltung nutzen, um Diskussionen bei Kindern und Jugendlichen anzustoßen und die Reflexion zu schärfen. Insbesondere Kinder und Jugendliche (nein, ich erwähne Greta Thunberg hier nicht) sollten nicht nur einen aufgeklärten Blick auf Skandale und ihre Mechanismen erlernen (Stichwort Medienbildung), sondern vor allem auch ihr eigenen Handlungspotenzial erkennen dürfen.

Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die die Schubladen von Gut und Schlecht besonders lautstark betätigen, häufig die sind, die sich entweder rasch aus der Affäre ziehen wollen, um selbst möglichst keine Handlungskonsequenzen fürchten zu müssen. Oder es sind diejenigen, die keine realistischen, derzeit wirklich gangbaren Lösungswege sehen und – noch fataler – auch keine diskutieren wollen. Da gibt es dann häufig nur die totalitäre Lösung oder keine. Basta.

Ich würde mir wünschen, die Fruchtbarkeit eines Skandals, der auf Basis konstruktiven Journalismus aufgedeckt wird, würde häufiger zu einem Do it yorself-Phänomen und damit zur Frage führen: „Ok, Scheisse ist das, was da passiert (ist). Aber: Was kann ich jetzt tun?“

Selbiges gilt auch für die Landwirtschaft: Bauern und Bäuerinnen arbeiten – wie jede gesellschaftliche (Teil-) Gruppierung – innerhalb mindestens eines Systems. Doch sollten sie nicht das System (Verbände, Politik usw.) allein für sich sprechen lassen. Es ist gut, eine starke Stimme zu haben. Doch wenn diese nicht ausdrücken kann oder will, was tatsächlich Sache ist, sollte Eigenengagement und Mut zur eigenen Stimme dann und wann eine Chance haben. Einzelne Beispiele gibt es. Mehr davon, dann wird auch der nächste Skandal keine reine Schwarz-Weiss-Diskussion mehr.

Skandale in der industriellen Landwirtschaft

Wie ist für gewöhnlich Deine Reaktion auf Skandale in der industriellen Landwirtschaft? Was beobachtest Du bei Freunden und Bekannten? Führen Skandale zu konkreten Handlungsveränderungen? Was würdest Du Dir wünschen?
Schreib uns: redaktion@weidefunk.de

Mehr zum „fairen Deal“

  • Urheber des Begriffs ist Dr. Jörg Luy. Luy wurde zur Ethik in der Tötungsfrage von Tieren promoviert.
  • Fachbuch „Der faire Deal: Basis eines neuen Rechtsverständnisses im Tier-, Natur- und Umweltschutz“ (2018)

Verwandte Quellen

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