Zwischen Verurteilung und Kälbergeburt. Abendliche Gedanken eines Landwirts.

Je länger ich mit dem Weidefunk unterwegs bin, desto mehr änderte sich in mir. Ich konnte mir immer mehr zugestehen, wie eng mein gedanklicher Horizont über Jahre war. Für mich waren Landwirte Diener der Industrie. Womit sie in mein persönliches Feindschema reinrutschten.

Durch unzählige Gespräche, die weit über Interviews auf den Höfen hinausgehen, durfte ich dazu lernen, wie übel eine einmal gefasste Meinung alles und jeden einfärben kann. Und wie verdammt noch mal falsch das sein kann!

Ich fing an zu begreifen, dass es nicht „die“ Landwirtschaft gibt, und schon gar nicht „den“ Landwirt. Aber wer kennt sie denn auch? Ich ärgere mich maßlos über Funktionäre, die huldigen, was den Menschen in der Landwirtschaft ihre Identität und ihr Gesicht genommen hat. Dummerweise haben genau die eine verflucht laute Stimme.

Und immer wieder – ich erlebe es mit Angriffen auf Weidefunk ebenso – werden Bäuerinnen und Bauern mit der Industrie in einen Topf gekippt. Im Sinne der Tiere, die auf diesen Höfen leben, und im Sinne eines menschlichen Anstands miteinander, setze ich mich für eine klare Differenzierung ein. Denn ohne ein klares Erkennen, welche Menschen im Sinne einer natürlichen Landwirtschaft arbeiten, und welche Systeme das Profitrad drehen, werden wir substanziell nichts ändern können.

Heute Abend möchte ich euch dazu in einen Briefwechsel mitnehmen. Zwischen einem Schweizer Landwirt, Manfred, und mir. Ich würde mich freuen, wenn im ein oder anderen ebenso eine Neugierde geweckt wird, Anteil an Gedanken zu nehmen, die sich zwischen Schwarz und Weiss bewegen, und die Zusammenhänge ehren. Oder wie Hermann Hesse sagen würde:

“Our mind is capable of passing beyond the dividing line we have drawn for it. Beyond the pairs of opposites of which the world consists, other, new insights begin.”

Hermann Hesse

Ich möchte euch gerne mitnehmen in einen Briefwechsel zwischen Manfred und mir, bzw. seine Gedanken, die er mit mir teilte. Manfred ist ein Schweizer Landwirt; er hat nach seiner Ausbildung zum Landwirt und anschließendem Handelsdiplom fast 2 Jahrzehnte in Beratung und Ausbildung gearbeitet. Heute bewirtschaftet er mit seiner Familie den elterlichen Landwirtschaftsbetrieb im Schweizer Mittelland. Nebst Acker-, Futter, Streuobstbau und Kompostierung für die Gemeinde, bildet eine farbenfrohe Mutterkuhherde von 30 Kühen mit ihren Kälbern das Herzstück seines Betriebes. Das Wohl der Tiere ist für ihn zentral – das der Menschen dahinter aber auch.

Here you go:

Liebe Inga

Gerade diese Nacht, es ist jetzt 02.15 Uhr, ich bin im Stall inmitten schlafender Kälber und Kühe, erinnere ich mich an unser Telefongespräch letzthin. Du hast mich gefragt, wie es mir gehe. Meine Antwort fiel zögerlich aus.

Einerseits war ich dankbar für das (heuer ungewöhnlich) stabile Heuwetter von letzter Woche. Andererseits machten mich gewisse Begegnungen in dieser Zeit rat,- und etwas sprachlos, was bei mir eigentlich selten der Fall ist. Da war eine Bekannte, welche mich der Gier bezichtigte, als ich ihr vom Gülleführen vor Beginn des nächsten Regens ein Bild schickte. Gier? Beim Gülle führen? Hat das nicht eher mit Kreislaufwirtschaft zu tun? Der andere Kontakt interessierte sich für meine Streuobstwiesen mit den Obstbäumen und der Blumenvielfalt. Sie wollte mal vorbeikommen. War dann aber total perplex, als sie erfuhr, dass ich Tiere halte.

In einer Sprachnachricht erklärte sie mir, dass sie vegan lebe und fand nur mit größter Anstrengung die notwendigen Worte. Ganz darauf bedacht, mich nicht zu verletzten – was ich schätze – erläuterte sie mir ihre Standpunkte. Und diese konnte ich problemlos akzeptieren. Besser noch: Ich bewundere Menschen, welche ihr Leben ohne jegliche tierische „Produkte“ leben, welche regional und saisonal einkaufen, auch im Urlaub und bei der Kleiderwahl auf die Umwelt achten und deren Zusammenhänge verstehen (wollen).

Doch irritiert hat mich die Tatsache, dass dieser Person offenbar nicht bewusst war, was denn im Jahresverlauf mit meinen Streuobstwiesen passiert. Dass diese nicht einfach 365 Tage im Jahr vor sich hin blühen und eben auch mal geschnitten werden müssen. Dass davon abhängt, ob sie ihre botanische Vielfalt behalten oder verbessern kann. Dass ich auf diesen Flächen nicht einfach Gemüse oder Brotgetreide anbauen kann, da der Boden dazu nicht geeignet ist usw. Nun, wir werden die Gelegenheit finden, das zu bereden. 

Tja, jetzt ist es grad spätabends und Du wunderst Dich sicher, weshalb ich zu dieser Uhrzeit solche Gedanken wälze, und dann noch im Stall. Eigentlich wäre der Schlaf nicht zu verachten. Aber ich bin gerade stiller Beobachter: Gabi, unsere kleine Braunviehkuh, liegt in den Wehen. In der Regel muss ich nicht helfen, aber für den Notfall wäre ich da. Ich denke an einen verschneiten Morgen im letzten Januar zurück. Ticina, sie war seit vergangenem Dezember bei uns, hatte Schwierigkeiten beim Kalben. Sie war schon deutlich überfällig und das Kalb dementsprechend gross. Ich machte mir bereits Vorwürfe, dass ich zu lange zugewartet hätte. Trotz verschneiter Strassen schaffte ich es mit ihr im Transportanhänger noch rechtzeitig zur Tierklinik. Für den Tierarzt war der Kaiserschnitt ein Routineeingriff, für mich ein Morgen mit Stress- und Glücksgefühlen zugleich. Aber für Ticina und ihr Stierenkalb die einzig richtige Entscheidung – beide haben es sehr gut überstanden. 

Dann war da noch im Vorjahr die Gina: Ich kam spätabends von der Vereinsprobe nach Hause und vernahm untypische Muh-Laute aus dem Stall. Gina hatte, von uns unbemerkt, Zwillinge geboren. Allgemein erfreulich zwar, aber für sie offenbar der reinste Horror. Sie war gerade abwechselnd dabei, das eine Kalb zu lecken und das andere mit dem Kopf anzuheben und mit voller Kraft an die Wand zu werfen. Es war schrecklich und ich stieg, mit einem Stock bewaffnet, in die Box und wehrte die aufgebrachte Kuh bei weiteren Attacken ab. Allmählich beruhigte sie sich.

Es dauerte aber gleichsam zwei Tage, bis sie beide Kälber vollumfänglich akzeptiert hatte. Glücklicherweise sind solche Ereignisse selten. Auch bei Gabi läuft alles glatt. Das Kalb ist ohne meine Hilfe innert weniger Minuten auf der Welt. Einzig, die Mutter bequemt sich nicht dazu, aufzustehen und dem noch teilweise in den Eihüllen steckenden, nassen Etwas, mit der rauen Zunge die Lebensgeister richtig zu aktivieren. Ich ziehe das Kalb vor den Kopf der Mutter – worauf sie mit herzhaftem Lecken beginnt.

Knapp 10 Minuten später ist das Kalb bereits auf den Beinen, von der Mutter beobachtet und von leisem Muhen begleitet. Derweil liegen auf der gegenüberliegenden Seite große und kleine Kälber dicht an dicht und kreuz und quer beieinander im Strohbett. Sie können sich da selbständig und nach Lust und Laune von den Müttern absondern und unter ihresgleichen liegen. Einige dösen vor sich hin, andere sind am Wiederkäuen, einzelne fressen Heu, aber keines nimmt Notiz von der Geburt in der Nähe.

Alles ist ruhig und strahlt eine fast selbstverständliche Zufriedenheit aus. Gabis Kalb wird sich in den nächsten Stunden mehrmals am Euter bedienen und bereits am nächsten Tag unter mütterlicher Aufsicht einen zaghaften Ausflug auf den Laufhof unternehmen. Ich aber gehe jetzt wieder ins Bett. Und ja, meine Antwort an Dich Inga: Mir geht es gut, ich hoffe Dir auch.

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