Die Brückenbauerin. Warum das Sprechen über Fleischkonsum mehr Sanftmut und keinen Sprengstoff braucht.

Diskussionsthema Fleisch: Sprachlicher Sprengstoff

Stell Dir vor, Du sitzt mit einer Familie im Garten in einem Münsteraner Vorort. Es soll gegrillt werden. Vater Christoph ist von Beruf Fliesenlegermeister und leidenschaftlicher Fleischesser. So auch Tochter Anna (16) und Freundin Marleen (15): Fleisch wird jeden Tag und gerne gegessen. Nur die eine Tochter, Luisa (20), ist Veganerin – aus Überzeugung. 

Mutter Bianca, ist heute nicht dabei, da sie einen Kurzurlaub genießt. Aber sie hat vorher kräftig eingekauft. Grillfleisch aus dem Discounter. Was denkst du, geschieht, wenn Du jetzt in die Runde rufst: 

„Los, Luisa, hab dich nicht so – iss auch ein Stück Fleisch! Ihr Veganer müsst euch mal locker machen!“

Genau. Das könnte unschön werden. Fleisch ist ein Thema, das emotionalen Sprengstoff birgt. 

Ein Experiment und Familientreffen

So ein Weidefunk-Trip findet zum ersten Mal statt: Wir treffen uns mit einer Familie, um über ihre Ernährung zu sprechen.

Das Setting hat exakt so am vergangenen Sonntagnachmittag stattgefunden. Nur eines stimmte nicht: die „lockernden“ Worte an Luisa. Das Fantastische ist aber: Du hättest es zu ihr sagen können. Dann hätte sie ihre Stärke ausgespielt: nämlich ihre Art, über Dinge nachzudenken und mit Dir zu sprechen. 

Denn Fleischessen spaltet die Gemüter: das Thema birgt die Gefahr, auf der falschen Seite zu stehen. Je nachdem, auf welcher, ist man missionierender Veganer. Oder rücksichtsloser Fleischesser. Daher braucht es Brücken, die zwei Sichtweisen miteinander in Einklang bringen. Und diese Brücken sollten wir bei diesem Familientreffen kennenlernen.

„Wie kannst du nur?!“

„Ich kann es selbst nicht ab, wenn mich jemand unter Druck setzt.“

Luisa

Luisa macht derzeit eine Ausbildung zur Hotelfachfrau. Pünktlich mit 18 war sie aus dem Elternhaus ausgezogen und kam durch ihre erste WG-Mitbewohnerin Sabine mit dem Veganismus in Berührung – und schloss sich an: 

„Damals war es reine Bequemlichkeit, dass ich ebenso aufhörte, Fleisch zu essen. War ja alles lecker, was Sabine so kochte und so mussten wir nicht doppelt einkaufen.“ 

Aber es stieß ihr damals schon bitter auf, dass Sabine bspw. in Restaurants auf die Wahl eines Fleischgerichtes von einer dritten Person (ungefragt) antwortete: „Wie kannst du nur?! Wie kannst Du Fleisch essen?“ Emotionale Worte von Sabine, die mir selbst von damals noch gut vertraut sind

Doch starke Emotionen sind die eine Sache. Die Art, sie zu äußern, eine andere. Bis heute erachtet Luisa jede Form der abfälligen Äußerung als nicht zielführend: 

„Ja, verdammt, das ist so übel, was in der Fleischindustrie abgeht. Und ich ziehe meine Schlüsse daraus und richte mein Handeln danach. Aber was bringt es, andere deswegen heftig anzugehen? Ich will selbst auch nicht angemacht werden, dann mache ich doch total dicht!“

Essen: Zu Tisch mit Bequemlichkeit

„Ich esse normal! So, wie Mama eben kocht.“

Anna

Hast du dir mal Gedanken gemacht, wie normal uns alles im Alltag geworden ist? Für fast alles haben wir Routinen und Gewohnheiten entwickelt: Arbeiten, Schlafen, Ausgehen, Essen. 

Ja, v.a. Essen. Unsere Ernährungsgewohnheiten sind kulturell stärker bestimmt, als wir wahrhaben wollen. Bequemlichkeit ist dabei das Schlagwort. Selbst Luisa begann damals aus Bequemlichkeit, Fleisch vom Speiseplan zu streichen. Heute ist das anders: die leidenschaftliche Sportlerin hat für sich aktiv entschieden, tierische Erzeugnisse zu meiden. 

Für Anna und Marleen ist diese Art zu essen, sprich vegan, in gewisser Weise „nicht normal“. Denn sie essen, ja: „eben normal, das was Mama auf den Tisch bringt!“ Fleisch aus dem Discounter und Supermarkt gehört dabei dazu. Anna macht derzeit Fachabitur im Sozial- und Gesundheitswesen sowie ein Praktikum im Seniorenheim. Marleen geht in die 10. Klasse, sie orientiert sich noch, wohin die Zukunft beruflich gehen soll. 

Luisas Blick während den Erzählungen von Anna und Marleen ist scharf, was auf kräftige Emotionen hinweist. Aber sie hört ruhig zu. Denn sie weiss: Bei beiden Mädels besteht kein Zweifel daran, dass sie ein tiefes Mitleid für die Tiere empfinden. „Das ist Horror was da abläuft!“ bestätigen die beiden jungen Mädels im Gespräch auch immer wieder. Aber sie orientieren sich – wie viele, viele andere – an der Normalität. 

Die Gefahr der Normalität besteht darin, dass wir verlernen, hinter die Dinge zu schauen. Wir hinterfragen nicht mehr, da das Bestehende funktioniert und angenehm für uns ist. Und Normalität – gepaart mit jahrzehntelanger Werbesprache – schafft Distanz: 

„Bei der Kinderwurst siehst du einfach das Tier nicht mehr dahinter. Und die ist halt jeden Tag da, im Kühlschrank.“

Anna & Marleen

Fleisch ist nicht gleich Fleisch

Ich erinnere mich an zig Essengehen – sorry Jungs: ja, vorrangig mit dem männlichen Geschlecht – wo dann im Brustton der Überzeugung gesagt wird: 

„Heute brauche ich mal was Anständiges! Wo sind die Fleischgerichte?“

Fleisch ist was „Richtiges“, „Anständiges“. Das hat sich in unseren Köpfen abgespeichert. Christoph sieht es auch so, mit einem Unterschied – er hörte irgendwann mal einem Kumpel von sich, Thomas, gut zu. Die beiden sind seit einer gefühlten Ewigkeit enge Freunde. Irgendwann begann Thomas mit der Jagd. Und nahm Christoph mit in Wald und Zerwirkkammer, also dem Ort, wo aus einem toten Tier Fleisch wird: 

„Vor dem Kennenlernen der Jagd hatte ich mir überhaupt keine Gedanken dazu gemacht, dass Tiere auf unterschiedliche Art und Weise sterben. Tönnies war mir nicht bewusst, was da abgeht!“

Christoph

Erst durch die Nähe zur Jagd wurde Christoph bewusst, dass Fleisch nicht gleich Fleisch ist. Sondern die Haltung sowie Herkunft und v.a. das Sterben des Tieres einen Stellenwert einnehmen sollte. Erst durch die Nähe zur Jagd wurde Christoph bewusst, dass Fleisch nicht gleich Fleisch ist. Sondern die Haltung sowie Herkunft und v.a. das Sterben des Tieres einen Stellenwert einnehmen sollte. 

Christoph ist immer guter Laune – aber wenn es es Ernst wird, wird deutlich, inwiefern ihm klare Werte extrem wichtig sind. Tolle Mischung eines Vaters aus Lebensfreude und Toleranz.

Dennoch greift auch Christoph noch zu Industrieprodukten, er isst, eben „was auf den Tisch kommt“. Aber der erste Schritt zu mehr Bewusstsein ist getan. Genau das schätzt Luisa. Für sie ist das Nachdenken über die Herkunft des Fleisches und damit über die Lebensgeschichte des Tieres unbändig wichtig. „Jeder Schritt“ sagt sie, „den die Menschen in einen bewussteren Weg tätigen, ihre Augen öffnen, wird der Lebensqualität der Tiere zu Gute kommen.“ 

Geteilte Meinungen! Deswegen: „Ich hör Dir zu, will wissen, was Dir wichtig ist.“

„Ich will mit meiner Art zu essen keinen nerven. Und vor allem will ich keinen missionieren.“

Luisa

Luisa vermeidet es zu sagen, dass sie vegan lebt. Privat wie öffentlich. Möchtest du von ihr was wissen, musst Du sie fragen, dann erzählt sie es Dir. Aber von selbst „möchte ich keinem meine Meinung aufdrücken.“ Und je nachdem, in welchen Kreisen oder Communities man sich bewegt, haben Veganer eben auch kein gutes Image: „Das ist irgendwie superstark mit Öko und so verbunden.“ lacht Anna. Und Luisa ergänzt: „Bei Vegan hast du häufig: Hey, du bist 100% dafür, oder 100% dagegen.“ Sie macht es bewusst anders:

„Wenn jemand eine andere Meinung vertritt als ich, dann können wir doch über alles – gerade wenn starke Emotionen dabei sind – gesittet reden. Und dann erkenne ich vielleicht die Punkte, die dem Anderen wichtig sind, und kann ihn oder sie verstehen!“

Luisa

Insofern fällt Luisa bei den beiden Mädels komplett durch das typische „Vegan-Raster“: 

„Ich bewundere Luisa dafür, wie sie über Ernährung nachdenkt“ 

Anna

Und Marleen ergänzt:

„Ich habe voll Respekt vor Luisa, dass die das so macht“. 

Schulische Aufklärung zur industriellen Tierhaltung

„Elendsvideos in der Schule? Sie zeigen einem keinen Weg! Nichts, was man dann tun kann! Da macht man zu.“

Luisa

Immer mehr Schulen wollen bzgl. industrieller Massentierhaltung aufklären. Das ist gut und richtig. Aber nicht nur Luisa, auch Anna und Marleen zweifeln an der Wirksamkeit dieser Pädagogik. „Solche Bilder und Videos wecken Schuldgefühle“ mahnt Marleen. Anna erzählt: 

„Wir haben damals in der Schule solche Videos gesehen – die haben mir einfach das Gefühl gegeben, etwas falsch zu machen. Und wenn Du noch jung bist, dann bist du am Ende total allein mit deinen Emotionen, weißt nicht, wie du damit umgehen sollst!“ 

Das positive Gegenbeispiel kennt Luisa: Bei einer Lehrerin in einer Schule in Hamm/Westfalen hat sie erlebt, wie ein grausames Thema – Menschenversuche – von dieser Lehrerin ganz anders aufbereitet wurde. Ja, es gab zu lesendeTexte, es gab auch einen Film dazu. Das übliche Material. Aber: 

  • Den SchülerInnen stand es frei, den Film nicht anschauen zu müssen. Wer eine Pause brauchte, ging raus und fand da das empfangende Gespräch mit der Lehrerin. 
  • Nach dem Film oder dem Lesen von Texten ging es nicht vorrangig um den Sachinhalt. Sondern um eine Frage: „Wie geht es Dir jetzt?“ Das Sprechen über aufkommende Gefühle ist wichtig, um mit harten Fakten umgehen zu können. 

„Wir haben nach dem Film nur darüber geredet, wie es uns geht!“ erinnert sich Luisa begeistert. „Es ging um unsere Gefühle! Das wünsche ich mir auch für das Thema industrielle Massentierhaltung. Seufzt sie. 

Wann hat das letzte Mal jemand seinen Burger aus der Hand gelegt, weil Du zu ihm meintest: „Hey! Fleisch ist Mord!“?

Dieser Satz wurde irgendwann zu meinem Lieblingsbeispiel, um Menschen zu sagen: Hey, manchmal ist deine Meinung nicht das Wirkungsvollste, um Menschen zu einer Verhaltensänderung zu motivieren. 

„Ich will keinem die Schuld für das Elend in der Tierindustrie zuschieben! Und wenn ich mit den Menschen spreche, mich echt dafür interessiere, was sie bewegt, dann finden wir vielleicht eine Basis, auf der wir miteinander sprechen können, wie wir es anders machen können, echt was verändern können.“

Luisa

Was bräuchte es, dass Anna und Marleen von ihrer „normalen“ Ernährung abrücken? „Ausziehen von Zuhause“ lachen beide. Die Bequemlichkeit wiegt schwer. Und genau das kann und sollte man keinem zum Vorwurf machen. Sondern erkennen und verstehen sollten wir es! 

Genau das machen Menschen wie Luisa. Sie ist für uns das Modell „Brückenbauerin der Zukunft“. Denn ehe sie urteilt, will sie verstehen. Und dadurch wird sie gerade bei hoch emotionalen Themen Verständnis ernten und wirklich was bewegen können. 

Danke an die gesamte Familie, Luisa, Anna, Marleen und Christoph! Es war mega toll und sehr inspirierend mit Euch allen!

Und polnisches Bier ist super! (-:

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